1.

 

 

 

Als Friedhelm am Morgen erwachte, ahnte er noch nicht, wie der Tag enden würde. Nun weiß das niemand mit Sicherheit, aber die meisten Menschen haben eine ziemlich genaue Vorstellung davon, die sich auch meist bestätigt. In diesem Fall war dem nicht so. Dem war überhaupt nicht so. Friedhelm wusste wenig über Chinesen. Dass sie alle möglichen Dinge herstellten, nichts von Umweltschutz hielten und ihre Bürger ausspähten, das schon. Er wusste aber nicht, dass sie im Begriff waren, die Weltherrschaft an sich zu reißen. Schon gar nicht wusste er, dass es an ihm lag, das zu verhindern. Und es wäre ihm im Traum nicht eingefallen, dass am Abend ein waschechter Chinese in seinem Wohnzimmer sitzen würde. Für jemanden, der die Welt retten sollte, war Friedhelm die denkbar schlechteste Wahl. Solche Aufgaben wies man in der Regel Leuten zu, die aussahen wie James Bond oder Bruce Willis. Friedhelm dagegen hatte einen Bierbauch. Er war nicht besonders fit und hatte auch keine militärische Ausbildung. Und Friedhelm war ein Langweiler. Leute, die sich mit ihm unterhielten, fühlten schon binnen Sekunden die Schwerkraft an ihren Augenlidern zerren. Er interessierte sich für nichts. Politik war ihm egal, Religion, Wissenschaft, Sport und Kultur ebenso. Dies alles, so fand er, berührte sein Leben nicht und war folglich auch nicht wichtig. Bei Licht betrachtet lebte er in einer Art innerer Emigration. Verschanzte sich vor fast allem. Er las zwar hin und wieder ein Buch oder sah sich einen Film an, aber das tat er eigentlich nur, weil man das eben so machte. Man blätterte nun mal morgens in der Zeitung und um viertel nach acht setzte man sich eben vor die Flimmerkiste. Eine Unterhaltung mit ihm hatte demnach wenig Sinn, da er zu nichts außer dem Wetter eine Meinung hatte. Eigentlich wäre dieser Mann ohne Eigenschaften der perfekte Buchhalter oder Finanzbeamte gewesen, aber in seiner gegenwärtigen Situation war er Pächter einer Tankstelle. Nur hin und wieder spürte er ein kleines Ziepen in sich. Eine verhaltene Sehnsucht, mal irgendetwas zu erleben. Dann ging er in die Kneipe und spülte die Regung mit ein paar Bieren hinunter. Das war nicht gerade die Wolle, aus der man Helden strickt. Aber der Reihe nach.

 

Als Friedhelm am Morgen erwachte, tappte er erst einmal ins Bad und putzte sich die Zähne. Die Borsten der Zahnbürste riefen ihm seinen Traum in Erinnerung. Er war durch ein Tal in Tibet gewandert, als auf einmal ein Opossum aus dem Gebüsch sprang, sich auf ihn stürzte und sich in seinem rechten Bein verbiss. Ebenso verzweifelt wie ergebnislos versuchte er es abzuschütteln. Als das nichts half, ging er, sein Bein und das Opossum hinter sich herziehend, zum nächsten Dorf, um sich Rat zu holen, wie man das Vieh wieder loswürde. Die Bewohner meinten, dies sei sehr schwierig zu bewerkstelligen. Wenn sich das Pelztierchen erst mal verbissen habe, könne es Tage dauern, bis es sich so ein Opossum anders überlege.

 

Friedhelm klatschte sich Wasser ins Gesicht und schüttelte den Kopf. So ein Blödsinn, dachte er, in Tibet gibt es doch gar keine Opossums. Dann trank er seinen Kaffee und fuhr zur Arbeit.

 

 

 

 

 

Die Tankstelle hatte er von seinen Eltern übernommen. »Getankt wird immer. Das ist was Sicheres«, war die Reaktion seiner Eltern gewesen, als er ihnen nach dem Schulabschluss seine Berufswünsche vortrug. Es war auch die Antwort auf jeden seiner Einwände gewesen. Seine Eltern waren sehr ängstliche Menschen.

 

Alles, was auch nur einen Hauch von Risiko verströmte, war verboten. Als Kind durfte er nicht auf Spielplätze, Straßen waren unberechenbare Monster, die nur darauf warteten, einen zu verschlingen, am besten also, er verließ niemals den elterlichen Garten. So tendierten seine sozialen Kontakte schon früh gegen null. Was sich später in der Schule kaum änderte, vor allem weil Schulbusse zu gefährlich waren, ganz zu schweigen von Fahrrädern. Friedhelm wurde täglich von Mutter direkt vor dem Schuleingang abgesetzt und zu allem Überfluss auch noch zu einem Abschiedskuss genötigt. Genauso gut hätte sie ihn in einem Zebrakostüm in einen Löwenkäfig schubsen können. Um dem Hohn und Spott seiner Mitschüler zu entgehen, wurde Friedhelm praktisch unsichtbar. Er versteckte sich, wo er nur konnte, erschien im Klassenzimmer erst pünktlich zum Gong, meist mit dem Lehrer und war er am Ende der Stunde innerhalb weniger Sekunden verschwunden. Irgendwann hieß er in der Schule nur noch „Der Geist“.

 

Und so war aus ihm schließlich ein durch und durch mittelmäßiger Mitbürger geworden. Er besaß ein mittelmäßiges Reihenhaus in einem Frankfurter Vorort.

 

Er konnte mittelmäßig Schach spielen, kegelte mittelmäßig, erledigte seine Arbeit mittelmäßig, aber es gab nichts, worin er so richtig gut war.

 

Deshalb hatte er auch nur zwei Freunde.

 

Der eine war sein Hund, den er Mad Max getauft hatte, weil er seiner Meinung nach denselben Blick hatte wie Mel Gibson.

 

Er hatte zwar Mel Gibson noch nie so richtig in die Augen gesehen, fand aber, dass Schauspieler eben so kuckten. Außerdem erinnerte er durch diese Namenswahl an einen herausragenden Mimen, der vor einem Jahr auf mysteriöse Weise verschwunden war. Weshalb und wohin war immer noch nicht geklärt.

 

Der andere Freund war sein Reihenhausnachbar Stefan. Doch der hatte sich in den letzten Tagen und Wochen arg verändert. Politik war Stefan bisher genauso egal gewesen wie ihm selbst – nun hielt er plötzlich Lobreden auf die Volksrepublik China. Aber das war noch nicht das Schlimmste, denn er veränderte sich auch körperlich. Seine Augenpartie war enger geworden. Und er schien zu schrumpfen! Friedhelm hatte längst für sich beschlossen, ihn bei Gelegenheit darauf anzusprechen, wusste jedoch nicht wie. Vielleicht würde er ja heute den Mut aufbringen. Es war ein tägliches Ritual, dass der eine den anderen besuchte, sie ein paar Bier tranken und plauderten. Kaum war Friedhelm wieder zu Hause, klingelte es auch schon an der Tür. Stefan sagte »Ni Hao«, was auch immer das heißen mochte, und folgte Friedhelm auf die Terrasse, wo das gekühlte Bier bereitstand. Nachdem die beiden fünf Minuten stumm auf der Bank gesessen hatten, brach Stefan das Schweigen.

 

»Schönes Wetter heute«, stellte er fest.

 

»Ja, soll ja jetzt ein paar Tage so bleiben«, entgegnete Friedhelm.

 

»China ist so groß, da gibt es sogar verschiedene Klimazonen.«

 

Diese Feststellung war bereits im Gebell des Hundes untergegangen. Denn der Beagle Mad Max hatte es sich seit einiger Zeit zur Angewohnheit gemacht, mehrmals täglich minutenlang das Gartenhäuschen anzukläffen. Um dem Radau ein Ende zu bereiten, beschloss Friedhelm, dem Hund zu zeigen, dass an dem Häuschen gar nichts Besonderes war.

 

Friedhelm ging also über den viel zu oft gemähten Rasen (er war kürzer als die Haare des Ausbildungsoffiziers in dem Film Full Metal Jacket), öffnete die Tür des Gartenhäuschens, trat entschlossen ein, brach durch die Bodenbretter, stürzte zwei Meter tief, landete zum Glück auf den Füßen, fiel auf den Hosenboden, rappelte sich auf und sah sich plötzlich einem Chinesen und mehreren Monitoren gegenüber. Friedhelm stand erst mal da wie ein besoffenes Opossum. Erstens musste sich Friedhelm von dem Schock seines Sturzes erholen und zweitens wusste er nicht, wie er mit dem, was er vor sich sah, umgehen sollte.

 

Auch der Chinese war für einen Moment völlig baff. Allerdings aus anderen Gründen. Mist, ich habe die Stützstreben vergessen, dachte er. Außerdem beschlich ihn die Vorahnung, dass er sich durch den Vorfall ziemlichen Ärger mit seinem Vorgesetzten einhandeln würde, dem das Gleiche mit seinem Chef passieren würde und so weiter.

 

So glotzten sich die beiden erst einmal dämlich an. Zwei Minuten können ganz schön lang sein. Als Friedhelm sich wieder halbwegs gefangen hatte, packte er den Chinesen am Kragen und ersuchte ihn, ihm doch bitteschön zu erklären, was er unter seinem Gartenhäuschen zu suchen habe, wo all die Fernseher herkämen und ob diese über seinen Stromanschluss liefen.

 

Der Asiate antwortete mit einem wütenden Redeschwall, was Friedhelm wenig beeindruckte, da er zum einen kein Wort verstand und zum anderen stinksauer war. Den Eindringling immer noch am Schlafittchen haltend ließ er seinen Blick durch den Raum schweifen. Das Gartenhäuschen war ohne sein Wissen komplett unterkellert worden. Das musste wohl an einem seiner Wanderwochenenden passiert sein. Er nahm sich vor, später einen seiner Nachbarn zu befragen. Der Boden des unterirdischen Raumes bestand aus gestampfter Erde, was der Grund war, dass es darin außerordentlich muffig roch. Die Wände bestanden aus Rigipsplatten, an denen vielerorts Schimmelflecken zu sehen waren. An ihnen hingen gerahmte Fotos von Mao Tse-tung und Xi Jinping. Ferner war in dem gerade mal zwei mal zwei Meter großen Raum neben einer Hängematte lediglich das Terminal, das hinter dem Chinesen aufragte und fast die Hälfte des Raumes einnahm. Es bestand aus besagten Monitoren, auf denen jedes Zimmer in Friedhelms Haus, aber auch in dem seines Freundes Stefan zu sehen war. Unter den Bildschirmen befand sich neben der Tastatur ein Schaltpult mit einer komplexen Mischung aus Knöpfen, Reglern und blinkenden Lichtern. In einer Ecke sah er einen Schacht mit einer Trittleiter. Friedhelm ließ den Chinesen dort unten stehen und kletterte nach oben. Nachdem er sich durch die mit einem Rasenstück getarnte Klappe gezwängt hatte, bat er Stefan, hinunterzuklettern und den Eindringling zu bewachen. Dann zückte er sein Smartphone, um die Polizei zu verständigen. Dort nahm man ihm die Geschichte aber nicht ab, riet ihm, in Zukunft weniger zu trinken und drohte mit einer Anzeige, sollte er den Notruf noch einmal für seine Narreteien missbrauchen. Also ging Friedhelm schnurstracks in sein kleines Arbeitszimmer, fuhr den Computer hoch und begann zu googeln. »Überwachungsraum China Garten« führte ihn lediglich zu einigen chinesischen Restaurants. Bei »Überwachung Deutschland China« stieß er auf einige Zeitungsartikel darüber, wie China die Bürger im eigenen Land überwachte. Er schilderte sein Problem auf gutefrage.net, erntete dort jedoch nur Spott. Frustriert schaltete er den Rechner aus. Auf dem Weg zurück in den Garten machte er noch Halt an seiner Krimskrams-Schublade im Wohnzimmer und entnahm ihr die Handschellen. Die mit rosa Plüsch ummantelten Dinger hatte er bislang für das blödeste Geburtstagsgeschenk gehalten, dass er je bekommen hatte. Nun waren sie tatsächlich von Nutzen. Über die Terrasse ging er zurück zum Gartenhäuschen.

 

Stefan schob den Chinesen auf sein Kommando die Leiter hinauf und Friedhelm wartete, bis dieser die oberste Sprosse erreicht hatte. Dann drehte er dem Eindringling die Hände auf den Rücken und legte ihm die Handschellen an, wie er es vom „Tatort“ im Fernsehen kannte. Als das erledigt war, bugsierte er ihn ins Wohnzimmer und setzte ihn auf einen Sessel. Er bat Stefan, auf den Gefangenen aufzupassen. Er musste dringend an die frische Luft, um in Ruhe über diese vertrackte Situation nachzudenken. Da er aber kein Unmensch war, schaltete er den Fernseher ein und ließ zur Überbrückung ein paar Urlaubsvideos laufen. Er war Mitglied in einem Wanderverein und nahm hin und wieder an einer Exkursion in die Berge teil. Als er eine halbe Stunde später und keinen Deut schlauer wieder das Haus betrat, erklärte ein vor Langeweile schluchzender Chinese, er wolle ein volles Geständnis ablegen, wenn nur diese bestialische Folter beendet würde, was Stefan bereitwillig übersetzte.

 

Friedhelm war einem Nervenzusammenbruch nahe. Statt gemütlich auf dem Sofa zu sitzen und fernzusehen, hatte er einen gefesselten Mann im Haus, sein Nachbar sprach plötzlich fließend Chinesisch – und sah, wie Friedhelm mit Befremden bemerkte, mittlerweile eins zu eins aus wie Mao Tse-tung. Was zum Henker war hier los? Wieso musste das ausgerechnet ihm passieren? Er atmete ein paarmal tief durch und wandte sich dem ungebetenen Gast zu. Vielleicht gab es ja eine ganz einfache Erklärung für dieses Dilemma.